Standpunkte

Die Europawahl und der Wachstumskonflikt (II)

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Drei Probleme, wenig Hoffnung

Problem I: Erosion und Isolation des ökosozialen Spektrums

Richten wir zunächst einmal den Blick auf das Spektrum, in dem Wachstumskritik deutlich am stärksten unterstützt wird. Sowohl die Grünen als auch die Linke als die mit dem ökosozialen Spektrum verbundenen Parteien haben gegenüber 2021 stark an Wähler:innen verloren – die Linke besonders stark ans BSW, die Grünen an die Union, beide außerdem in großem Umfang an die Nichtwählenden. Bei den vormals grünen Neu-Nichtwählenden mag es sich in Teilen tatsächlich um von der Ampelpolitik frustrierte Klimabewegte und Wachstumskritiker:innen handeln – die noch größeren Verluste Richtung Union signalisieren aber, dass die konservativ-grünen Annäherungstendenzen im Zeichen sozialer Nähen in der „bürgerlichen Mitte“, die sich vor einigen Jahren noch abgezeichnet hatten, inzwischen wieder stärkeren gegenseitigen Abgrenzungen weichen.

Dahinter zeigen sich stark divergierende Vorstellungen davon, was denn das Bürgerlich-Anständige dieser Mitte ausmacht. Waren in Zeiten zunehmenden Wohlstands Gemeinsamkeiten bestimmend gewesen und frühere Konservative konnten sich mit moderaten oder ‚pragmatischen‘ grünen Stimmen vom Schlage Kretschmann oder Habeck zunehmend anfreunden, weil Klimaschutz unter dem versprochenen grünen Wachstumsmodell die eigene Lebensweise nicht anzutasten drohte, so erscheint heute, nach Heizungsgesetz und Verbrennerstreit, vielen schon das Festhalten an grundlegenden ökologischen Zielsetzungen als „zu ideologisch“ und wohlstandsgefährdend. Die Brücken zwischen ökosozialem und konservativ-steigerungsorientiertem Lager, die einige vor kurzem noch entstehen sahen, scheinen schon wieder morsch oder abgebrochen, und der an Grundüberzeugungen festhaltende Kern des ökosozialen Spektrums sieht sich sozial und politisch zunehmend isoliert und unter Druck.

Jenseits des neu aufgerissenen Grabens rücken die rekonvertierten konservativen Wähler:innen, neben noch deutlich größeren Kontingenten ehemaliger SPD- und FDP-Anhänger:innen, erneut zusammen unter den Fittichen der triumphierenden Union – jener Partei, die wie keine zweite für den gegenwärtigen Trend des konservativ-steigerungsorientierten Spektrums zur Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Klimaschutz und gewohnter Lebensweise zugunsten der letzteren steht.

Das ökosoziale Spektrum wird aber nicht nur durch diesen Verlust von Anschlussfähigkeit nach außen geschwächt, sondern auch durch seine eigenen internen Fliehkräfte. Beispielhaft hierfür mag die Entwicklung bei den jungen Wähler:innen stehen, denen lange pauschalisierend eine besonders große Besorgnis um das Thema Klima zugeschrieben worden war. Wie der drastische Absturz der Grünen (um 23 Prozentpunkte auf 11%) unter den Erstwähler:innen zeigt, war die vor Jahren beschworene „Generation Greta“ eine Illusion, oder genauer: ein digital-mediales, durch flüchtige Stimmungen und politische Strategien erzeugtes Artefakt – ebenso wie die Stärke der FDP 2021 oder die jetzigen hohen Anteile der AfD bei den unter 24jährigen. Während letzteres zunächst einmal vor allem zeigt, dass auch Jugendliche sich auf alle drei Spektren verteilen, scheint die gleichzeitige massive Fragmentierung und Orientierung hin zu Kleinparteien, die möglichst passgenau das eigene Image und Wunschprofil treffen sollen, in der jungen Generation doch am stärksten das ökosoziale Spektrum zu betreffen. Bemerkenswert ist insbesondere der mit 7% beachtliche Erfolg von Volt bei den Erstwählenden – einer Partei, die mit ihrem ausgeprägten gesellschaftspolitischen Individualismus und ihren vor allem verbalen Bekenntnissen zu Klimaschutz als „außerdem auch noch“-Thema ziemlich exakt das Lebensgefühl des Mentalitätstyps „Progressive Selbstverwirklichung“ im ökosozialen Spektrum trifft. Dass Volt derzeit erwägt, im EU-Parlament der Grünen-Fraktion den Rücken zu kehren und sich den Liberalen anzuschließen, spricht für sich. Während, wie hier erkennbar, am einen Ende auch innerhalb des ökosozialen Spektrums Absetzbewegungen von Wachstumskritik und ‚zu viel‘ Klimaschutz erkennbar sind, weil hiervon Einschränkungen des eigenen Lebens- und Selbstverwirklichungsmodells befürchtet werden, deuten an anderer Stelle Wanderungen von Linken und Grünen zum BSW an, dass es auch in den materiell eher benachteiligten, stärker den sozialen Aspekt betonenden Teilen des ökosozialen Spektrums zu Verschiebungen und Umorientierungen kommen könnte.

Problem II: Die Annäherung von konservativ-steigerungsorientierten und defensiv-reaktiven Mentalitäten

Einer der erschreckendsten Aspekte des Wahlergebnisses ist, dass laut Nachwahlbefragungen 33% der Arbeiter:innen, die zur Wahl gingen, AfD wählten. Das scheint zunächst den Befund von 2021 zu untermauern, dass die AfD ihren Wähler:innenschwerpunkt weit unten, bei den Wachstumsverlierer:innen, die ihre Lage defensiv-reaktiv verarbeiten, hatte. In der Tat lebt gerade die AfD politisch vom vertikalen Abstraktionskonflikt, den sie aktiv schürt in Form von Ressentiments gegen „Die da Oben“ – als falsch personalisierte Repräsentanz der unverstandenen und undurchschaubaren abstrakten gesellschaftlichen Kräfte und Dynamiken, denen die mit diesen Botschaften Angesprochenen sich passiv ausgeliefert sehen. Am Gegenpol des vertikalen Abstraktionskonflikts stehen ihr Grüne und FDP gegenüber, deren Wähler:innen ihre Verteilungsschwerpunkte fast exakt auf derselben Höhe haben – der Unmut über erlebte Benachteiligung und Beherrschung durch verhasste „Zahlenmenschen“ als Repräsentant:innen einer abstrakten, eigene Bedürfnisse ignorierenden Gesellschaft entlud sich aber keineswegs gleichermaßen gegen beide, sondern überproportional stark gegen die Grünen mit ihren gefühlten moralisch-politischen, weit weniger gegen die FDP mit den von ihr geförderten ökonomischen Zumutungen. Wir deuten die erhebliche Spannung, die sich entlang dieser Diagonale von unten rechts nach oben links in steigender Feindseligkeit, zuletzt auch häufiger in Gewalt oder Gewaltdrohungen entlädt, in unserem in Kürze erscheinenden Buch „Der neue sozial-ökologische Klassenkonflikt“ als einen verschobenen, verkürzten, politisch instrumentalisierten Ausdruck des Konflikts um die abstrakt-expansive Logik moderner Vergesellschaftung, der derzeit in Ermangelung jeglicher wirksamer Gegenstrategie von demokratischer Seite immer mehr auf autoritäre, nationalistische, ausgrenzende, gewalttätige Lösungen zuzutreiben droht. Weil demokratische wie emanzipatorische Kräfte auf die immer drastischer grassierende Überforderung, Überlastung und Entfremdung durch die rasant eskalierende Komplexität der globalisierten digital-kapitalistischen Wachstumsgesellschaft und ihre Krisen keine Antworten haben, oder diese Erscheinungen als bloßen Ausdruck materieller Verteilungsungerechtigkeit missverstehen, haben sie dieser medial und politisch sehr aktiv betriebenen Instrumentalisierung nichts entgegenzusetzen.

Diese Gefahr ist deshalb so groß, weil die Umlenkung und Instrumentalisierung des Konflikts im öffentlichen Bewusstsein – auch das zeigen die Wahlergebnisse und die Nachwahlbefragungen – sich auch in den Wahrnehmungen und Empfindungen der Wähler:innen niederschlägt, auf dieser Ebene Räume des Denk- und Sagbaren verschiebt und alltäglich wie politisch die Möglichkeit neuer Allianzen eröffnet. So gaben Unionsanhänger:innen 2024 sehr viel häufiger als 2019 an, die Zuwanderung sei das für sie wahlentscheidende Thema gewesen (19%, +16), während dessen relative Wichtigkeit für AfD-Wähler:innen mit 46% zwar immer noch hoch, dabei aber um 11 Prozentpunkte gesunken war. Bei Unionsanhänger:innen verbreiten sich also zunehmend offene Abwehrmentalitäten, während die AfD zunehmend auch von Leuten gewählt wird, denen es nicht zuvorderst um deren ideologische Kernanliegen geht – beides Anzeichen einer beidseitigen Annäherung. Spiegelbildlich dazu das Bild beim Thema Klima und Umwelt: Dieses war nur noch für 3% der Unionswähler:innen entscheidend (15% weniger als 2019), die sich damit auch hier den AfD-Wähler:innen (1%) annäherten.

Noch einmal deutlicher wird dieser Trend im Blick auf die Wähler:innenwanderungen. Fast ein bisschen unter ging in dem ganzen Entsetzen über die Verluste der Ampelparteien, woher denn die AfD ihre erwartet massiven Stimmenzugewinne bezog: In allererster Linie von SPD und Union sowie von der FDP. In Anbetracht dessen, dass alle drei dieser Parteien ihre sozialstrukturellen Schwerpunkte gleichermaßen im rechten Bereich des Raums haben, wo das konservativ-steigerungsorientierte Spektrum bestimmend ist, weist auch dies deutlich darauf hin, dass sich die Abgrenzungen der Spektren aufweichen oder auflösen – für je rund eine halbe Million vormalige SPD-, CDU- und FDP-Wähler:innen hat sich die AfD offenbar als gleichermaßen legitime Option etabliert. Damit wird sie erneut – wie schon einmal in früheren Phasen, als sie ihren anfänglichen Ruf als „Professorenpartei“ noch nicht ganz verloren hatte – zu einer Partei nicht nur der unteren Klassen, sondern auch der materiell gutsituierten Wohlstandsmitte rechts im Sozialraum. Um hier weiter Fuß zu fassen, weitere Zugewinne zu erreichen und politisch anschlussfähiger zu werden, liegt es für die AfD stark nahe, ihre marktliberalen und umverteilungsfeindlichen wirtschafts- und sozialpolitischen Positionen beizubehalten. Damit hält sie den Raum offen, der inzwischen durch das dritte große Problem besetzt wird: Den Sozialkonservatismus des BSW.

Problem III: Der Aufstieg des Sozialkonservatismus

Einiges an Spekulation gab es vor der Wahl darüber, ob und in welchem Ausmaß es dem BSW gelingen werde, mit der Verknüpfung ökonomisch linker mit gesellschaftspolitisch rechten Positionen der AfD Stimmen abspenstig zu machen und sich neben derselben als Fürsprecherin der vom gesellschaftlichen Wandel Geprellten zu etablieren. Letzteres könnte ihm – um den Preis einer Verstärkung der rechtsautoritären Dynamik – gelingen, ersteres geschah dabei aber nach den Wahlanalysen nur in geringem Ausmaß. Das BSW scheint mit seiner sozialautoritären Programmatik insbesondere jene Teile des defensiv-reaktiven Spektrums zu erreichen, die für die offen antidemokratischen Positionen der AfD nicht empfänglich sind und bislang im Osten zur Linken, im Westen eher zur SPD neigten (Die Linke hat 470.000, die SPD 580.000 Wähler:innen an BSW verloren). Zugleich gewann es nur relativ wenige vormalige AfD-Stimmen (160.000) – statt, wie von einigen erhofft, die extreme Rechte zu schwächen, schafft es also eher eine Option für diejenigen, die einer vergangenen industrialistischen Wachstumsgesellschaft nachtrauern, deren Gewinne aber innerhalb der Nation gerechter verteilt sehen wollen als die kapitalfreundliche AfD. Dies zog auch in Teilen des rechten Sozialraums – von Union und (erstaunlicherweise) FDP wechselten ebenfalls je rund eine Viertelmillion zum BSW. Von Wachstumskritik will die Klientel der Partei dementsprechend auch nichts wissen, sondern plädiert laut einer Studie der Adenauer-Stiftung bei „einer Konkurrenz von Klimaschutz und Wirtschaftswachstum“ klar „stärker für Wirtschaftswachstum“.

Darin spiegelt sich auch die vorrangige Frontstellung, in die Wagenknecht ihre Partei selbst auch am Tag nach der Wahl noch einmal klar stellte, indem sie der verbliebenen Linken unterstellte, „grüner als die Grünen“ sein zu wollen. Wo sie damit hinwollte, lässt sich an den Positionierungen beider Parteien in Abb. 2 recht deutlich ablesen. Offenkundig zielte die Bemerkung nicht auf den vertikalen Abstraktions-, sondern auf den horizontalen Lebensweisekonflikt: Durch die Betonung des Konservativen und der Abgrenzung gegen die Pluralität von Lebensweisen positioniert sie sich faktisch sozialstrukturell rechts und in erster Linie in der Abgrenzung gegen ‚links‘. Es ist zwar eher nicht zu erwarten, dass Wagenknecht in den nächsten Jahren offen mit der AfD zusammenarbeiten wird – indem sie ebenso wie diese Anti-Eliten-Rhetorik mit einer horizontalen Abgrenzung nach links verbindet, wirkt sie an der die politische Landschaft dominierenden Verschiebung und Instrumentalisierung des Klassenkonflikts in eine breite antitransformative Front der vereinten Rechten mit und leistet dem Aufstieg der AfD zur Regierungsmacht Vorschub.

Gibt es denn gar keine Hoffnung?

Zunächst einmal gibt es in der ganzen Gemengelage, wie sie sich derzeit darstellt, wenig Grund für Zuversicht. Zugespitzt gesagt laufen über die ganze Breite der Gesellschaft hinweg, und auch quer durch ganz Europa, die Leute in Scharen vor allem davon, was auch nur im Entferntesten mit Postwachstum in Verbindung gebracht werden kann. Grüne Parteien haben beinahe überall stark verloren, und wie am deutschen Beispiel gezeigt verschieben sich Kräfteverhältnisse zunehmend so, dass schon ein Festhalten an bereits Beschlossenem wie den Beiträgen zur Erreichung der Pariser Klimaziele und Kernpunkten des Green Deal für die nächsten Jahre fast utopisch scheint. Das alles sollte sich die Postwachstumscommunity zunächst einmal in aller Schonungslosigkeit klar machen.

So entmutigend es sein mag: ein Grund zum Aufgeben ist es nicht. Einen ganz schwachen Trost und die Ahnung einer Perspektive mögen beim Blick über die – noch – offenen Binnengrenzen wenigstens die Zugewinne einzelner Sitze durch ‚linksgrüne‘ Parteien in Skandinavien und Belgien verschaffen: Wenn Positionen der Befürwortung einer radikaleren ökologischen Politik irgendwo Zulauf bekamen, dann dort, wo diese als Teil einer umfassenderen (öko)sozialistischen, in gleichem Maße auf radikale Umverteilung und Infragestellung der kapitalistischen Steigerungszwänge gerichteten Programmatik daherkamen. Konsequent durchbuchstabiert und durchgehalten zielen solche Positionen letztlich darauf, die beschriebene Konstellation des instrumentalisierten Klassenkonflikts zu ‚drehen‘ und entlang der gegenläufigen Diagonale des Raums die Schädlichkeit einer ungerechten und ökologisch zerstörerischen, auf Externalisierung gebauten Produktions- und Lebensweise zu politisieren. Das ist aus Postwachstumsperspektive wünschenswert und notwendig, ja es scheint tatsächlich als einzig gangbare strategische Option für die nächsten Jahre – es sollten sich aber auch alle Beteiligten klar machen, dass das nicht auf Wohlfühlpolitik hinausläuft. Statt um Win-Win-Situationen und ein harmonisches Policy-Portfolio, das für alle etwas im Angebot hat, geht es dabei darum, einen harten, langen und auf absehbare Zeit aus einer Minderheitenposition geführten Kampf aufzunehmen – gegen stark organisierte und erbittert verteidigte Interessen nicht nur kleiner kapitalistischer Eliten, sondern auch erheblicher Teile der Bevölkerung, die in die aktuelle Wachstumskoalition eingebunden sind oder auf die Restauration einer früheren solchen Koalition hoffen.

Prof. Dr. Dennis Eversberg Soziologie mit dem Schwerpunkt Umweltsoziologie an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Zuvor leitete er die Nachwuchsgruppe "Mentalitäten im Fluss. Vorstellungswelten in modernen bio-kreislaufbasierten Gesellschaften" am Institut für Soziologie der FSU Jena. Von 2012-2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena und forschte unter anderem zur Degrowth-Bewegung.

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