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Europa: Wachstumseuphorie ohne Realitätscheck?

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Die Analyse der deutschen Wahlprogramme in dem Beitrag „Die Wachstumsfrage bei der EU-Wahl“ ist aufschlussreich und bemerkenswert. Untersucht hat Vincent Schlinkert die Programme von CDU/CSU, Die Grünen, SPD, AfD, Die Linke, FDP, Freie Wähler, Tierschutzpartei, ÖDP, Volt und Bündnis Sahra Wagenknecht. Alle bis auf die Tierschutzpartei und die Ökologisch Demokratische Partei (ÖDP) – zwei nicht im EU-Parlament vertretene Kleinparteien – gehen von der Notwendigkeit weiteren Wirtschaftswachstums aus. Alle Parteien mit Ausnahme der AfD, die ökologische Herausforderungen negiert, gehen zudem von der Möglichkeit “grünen Wachstums“ aus. Die Wachstumseuphorie scheint ungebrochen – Fortschritt wird mit Wachstum gleichgesetzt. Suffizienz, also das Auskommen mit dem Ausreichenden, sowie Konsumbegrenzungen spielen bei den Parteien schon gar keine Rolle. Wird das den Wählern und Wählerinnen nicht zugemutet? Oder hat man derlei selbst gar nicht im Denkhorizont? Ist die Politik noch immer dem „Immer-Noch-Mehr“ verbunden?

Wettbewerb in der Triade als zentrales Thema

Die aktuellen Wirtschaftsdebatten drehen sich um die Wettbewerbsfähigkeit der EU in der Triade mit den USA und China. „Einfallslos, überfordert, abgehängt: Die USA, China und 27 EU-Zwerge, die an Bedeutung verlieren“, so der Tagesspiegel in einem Beitrag über die konstatierte mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der EU. „Während die USA neuerdings mit industriepolitischen ,Koste es, was es wolle‘-Konzepten wie dem ,Inflation Reduction Act‘ Investitionen aus Europa absaugen, überschwemmt China die EU mit hochsubventionierten Produkten wie Windrädern, Solarzellen und E-Autos und verdrängt die heimischen Produkte“, wird das deutsche „Handelsblatt“ in einer Reportage „Nagelprobe für Europas Erfolgskonzept“ zitiert. Die geplanten höheren EU-Zölle für chinesische E-Autos sind eine Reaktion auf dieses vermeintliche Ins-Hintertreffen-Gelangen.

Der Internationale Währungsfonds erwartet in seiner Prognose vom April, dass die USA 2024 2,7 Prozent und China 4,6 Prozent Wachstum erreichen, die Euro-Zone hingegen nur 1,1 Prozent, warnt der Bericht. „Wir erleben in Europa eine fundamentale Begegnung mit einer Wirklichkeit, die wir bisher in ihrer Tragweite noch nicht verstanden hatten. Wir sehen, dass die Macht sich am Anfang der Wertschöpfungskette konzentriert, also bei den Rohstoffen, und am Ende der Wertschöpfungskette, wo Hochtechnologie produziert wird“, so der im Beitrag zitierte Soziologe Harald Katzmair. Diese Epizentren hätten sich in den vergangenen 20 Jahren schleichend mehr und mehr aus Europa in den nordamerikanischen, in den asiatischen Raum und in den Nahen Osten verlagert. Katzmairs Schluss daraus: Europa müsse sich im ersten Schritt eingestehen, dass die bisherigen forschungspolitischen Strategien offensichtlich nicht ausreichend funktionierten und man nur gemeinsam neue Ansätze finden könne, um sich gegen die internationale Konkurrenz aufzustellen.

Der deutsche Ökonom und nunmehrige Leiter des Österreichischen Wirtschaftsforschungsinstituts Gabriel Felbermayer argumentiert im Beitrag ähnlich: „Ein prosperierendes Europa ist eine Versicherung dafür, dass wir uns international den Frieden bewahren. Weil Europa dann in der Lage ist, seine Interessen zu verteidigen, auch eine Drohkulisse aufzubauen. Wenn wir wirtschaftlich nicht zusammenarbeiten, dann fehlen die Ressourcen dafür.“

Green New Deal als Zukunftsweg

Neu ist das nicht, denn bereits der Green Deal der EU war auf Wachstum angelegt. In der Präambel heißt es: „Klimawandel und Umweltzerstörung sind existenzielle Bedrohungen für Europa und die Welt. Deshalb braucht Europa eine neue Wachstums­stra­tegie, wenn der Übergang zu einer modernen, ressourceneffizienten und wett­bewerbsfähigen Wirtschaft gelingen soll.“ Als Ziele werden Klima­neutralität bis 2050, Entkopplung des Wirtschaftswachstums von der Ressourcennutzung sowie der soziale Zusammenhalt formuliert: „Niemand, weder Mensch noch Region, [soll] im Stich gelassen werden.“ Erreicht werden soll dies durch Investitionen in neue, umweltfreundliche Technologien, die Unterstützung der Industrie bei Innovationen, die Einführung umweltfreundlicherer, kostengünstigerer und gesünderer Formen des privaten und öffentlichen Verkehrs, die Dekarbonisierung des Energiesektors, die Erhöhung der Energieeffizienz von Gebäuden sowie die Zusammenarbeit mit internationalen Partnern zur Verbesserung weltweiter Umweltnormen.

Ebendies spiegeln auch die öffentlichen Debatten auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen sowie die Wirtschaftsmagazine in Funk und Fernsehen wider. In diesen geht es um Fragen wie die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie, um die Höhe der Inflation und wie wir diese wieder runterbringen oder eben um Wachstumsprognosen. Diese Fragen sind nicht trivial. Denn wenn beispielweise Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Wachstumsprognosen nach unten revidieren, müssen Unternehmen ihre Absatzpotenziale und Finanzministerien ihre Steuereinnahmen neu kalkulieren.

Zukunftspotenziale von Green Jobs

Grünes Wachstum bietet durchaus Zukunftspotenziale. Laut Definition der Europäischen Union sind Green Jobs Arbeitsplätze in der Herstellung von Produkten, Technologien und Dienstleistungen, die Umweltschäden vermeiden und natürliche Ressourcen erhalten. Indem wir unsere Volkswirtschaften ökologisieren, könnten wir qualitativ hochwertige Produkte liefern, grüne Jobs zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit schaffen und gleichzeitig den Klimawandel sowie die Umweltzerstörung bekämpfen, heißt es in einer Studie „Green Jobs. Success and Opportunities for Europe“. Vorgestellt werden darin Vorzeigebeispiele aus zahlreichen Regionen der EU. Die EU könne von solchen Bemühungen nur profitieren. Eine „grüne Politik“ würde es ermöglichen, Exporte im Wert von zusätzlich 25 Milliarden Euro pro Jahr zu generieren, zudem würden die Energiekosten bis 2050 um 350 Milliarden Euro pro Jahr gesenkt werden. Die Abhängigkeit von importierter Energie und zu volatilen Preisen gekauften Ressourcen würde sinken und die Versorgungssicherheit Europas gestärkt.

Laut einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation würden für die Erreichung des Pariser Klimaziels von 1,5 bis 2 Grad maximaler Erhöhung der globalen Temperatur an die 18 Millionen grüne Jobs bis 2030 nötig sein. Diese Studien zeigen, dass die sozialökologische Transformation Wachstumsmärkte braucht – im Bereich erneuerbare Energien, dem Ausbau des Öffentlichen Verkehrs einschließlich transeuropäischer, harmonisierter Eisenbahnnetze, aber auch im Bereich sozialer Dienstleistungen. Andere Branchen werden jedoch schrumpfen müssen – und der Ersatz aller fossilen Brennstoffe durch erneuerbare Energieträger stößt auf Grenzen – und damit auch die „grüne Industrie“.

Wachstum der ökologischen und sozialen Branchen

Der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister plädiert für grünes Wachstum, nicht für noch mehr Konsumwachstum für alle, sondern für Investitionen in eine sozial-ökologische Wende – von einer thermischen Sanierungsoffensive über Investitionen in erneuerbare Energieträger bei gleichzeitiger höherer Besteuerung fossiler Energie bis hin zu Umverteilungsmaßnahmen, die den Basiskonsum aller Bürger*innen ermöglichen. Notwendig seien auch mehr öffentliche Investitionen in Forschung und Entwicklung, insbesondere im Bereich Digitalisierung, wo Europa gegenüber den USA und China weit im Hintertreffen sei.

Europa brauche in den nächsten Jahrzehnten noch Wachstum, doch sei allein aus ökologischen Gründen auch über eine Zukunft nachzudenken, in der Produktivitätsfortschritte durch Reduzierungen der Arbeitszeit abgegolten werden und das Konsumwachstum in den reichen Volkswirtschaften zu einem Ende komme, so der Ausblick Schulmeisters: „Technische Innovationen erleichtern die Arbeit und steigern ihre Produktivität, deren Ertrag wird durch soziale Innovationen überwiegend in mehr Lebensfreizeit ‚ausbezahlt‘.“ Schulmeister schlägt anstelle einer CO2-Steuer einen politisch festgelegten kontinuierlich steigenden Preispfad für fossile Energieträger vor, weil so auch den Preisschwankungen am Weltmarkt entgegengewirkt würde.

Starke Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch nötig

Wettbewerbsfähigkeit ist wichtig, Forschungsförderung ebenso. Doch die Frage, ob grünes Wachstum reichen wird, um die Klimaziele und eine Kreislaufwirtschaft hinzukriegen, wird in den aktuellen wirtschaftspolitischen Debatten gar nicht diskutiert, sondern stillschweigend angenommen – auch wenn die empirischen Befunde etwas anderes sagen. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen BIP lag in Deutschland zwischen 1990 und 2022 bei 1,25 Prozent. Das Emissionsvolumen nahm im Durchschnitt dieses Zeitraums um 1,58 Prozent pro Jahr ab. Die Bertelsmann-Stiftung folgert daraus: „Grünes Wachstum war also in den vergangenen drei Jahrzehnten für die deutsche Volkswirtschaft bereits Realität.“ Allerdings, so wird ergänzt, „reicht das bisherige Tempo der Entkopplung keinesfalls aus, um bis 2045 das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen.“

In der Nachhaltigkeitsforschung wird davon ausgegangen, dass eine relative Entkopplung, also dass die Wirtschaft stärker wächst als der Emissionssaustoß, bei weitem nicht reicht. Nötig sei eine absolute und starke Entkopplung. Tilman Santarius, Professor an der TU Berlin, verweist auf Rebound-Effekte und den Trend zur Tertiarisierung unserer Ökonomien, im Zuge derer dreckige Industrien in die Länder des Südens ausgelagert wurden. Dies führe dazu, dass die Ressourcenintensität und Treibhausgas-Emissionen der Importe in den Ländern des Nordens seit Jahren ansteigen, was die Ökobilanzen verfälsche, da die Umweltzerstörung nur verlagert wird.

Mag. Hans Holzinger ist Wirtschafts- und Sozialgeograph. Er war dreißig Jahre lang wissenschaftlicher Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg, für die er weiterhin als Senior Advisor tätig ist. Zudem engagiert er sich bei den Scientists for Future. Im Mai 2024 ist sein neues Buch „Wirtschaftswende. Transformationsansätze und neue ökonomische Konzepte im Vergleich“ beim Münchner oekom-Verlag erschienen. Mehr: http://www.hans-holzinger.org/

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