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Transformatives (Ver-)Lernen für Postwachstum

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Im Jahr 1985 sagte der panafrikanische Revolutionär Thomas Sankara „Man kann keinen grundlegenden Wandel vollziehen ohne ein gewisses Maß an Verrücktheit. In diesem Fall kommt sie aus der Nonkonformität, dem Mut dich von den alten Formeln abzuwenden, dem Mut, die Zukunft zu erfinden.“ Der Weg in eine Postwachstumsgesellschaft ist ein solcher grundlegender Wandel. Er braucht daher allen Mut zur Nonkonformität und zum Abwenden von alten Formeln, den wir aufbringen können. Auch in der Bildung sollte sich dies widerspiegeln.

Der Bildung, die aktuell in formellen Bildungsinstitutionen und auch in großen Teilen der westlichen, ökologischen Bewegung stattfindet, fehlt dieser Mut allerdings zumeist. Die Hauptaufgabe von Bildung wird darin gesehen, Menschen über den Klimawandel zu informieren und zu nachhaltigerem Konsum und Verhalten zu bewegen (z.B. einen nachhaltigen Stromanbieter zu wählen oder mit Bus und Bahn zu reisen). Damit bleibt Bildung oberflächlich und beschäftigt sich mit den Symptomen, statt mit den strukturellen und systemischen Ursachen planetarer Zerstörung. Sie wagt es nur selten, von Mainstream-Narrativen abzuweichen.

Lernen, das wirklich zu einem grundlegenden sozial-ökologischen Wandel und zum Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft beiträgt, muss aus unserer Sicht weit darüber hinaus gehen und radikal sein; das heißt es muss an den strukturellen Ursachen ansetzen und vorherrschende Pfade und Denkweisen verlassen. Transformatives Lernen unterstützt die Überwindung unterdrückerischer Systeme, wie Kolonialismus und Patriarchat, bricht Machtstrukturen auf, fördert das gute Leben für alle überall und ermöglicht so auch ein Leben in Einklang mit dem Planeten. Um an den Ursachen anzusetzen ist es essenziell, die sogenannten gesellschaftlichen mentalen Infrastrukturen zu hinterfragen, zu verändern und in Handlungen und folglich strukturelle und materielle Veränderungen zu übersetzen. Auch für die Postwachstums-Bewegung ist eine solche radikale und transformative Bildungsarbeit essenziell.

Mentale Infrastrukturen (Welzer, 2013) bezeichnen unsere kollektiven, als normal wahrgenommenen Denk- und Handelsmuster und tief verwurzelte und lange praktizierte Normen, Werte, Überzeugungen und Annahmen. In der heutigen Moderne sind die mentalen Infrastrukturen maßgeblich von der kapitalistischen Logik mit ihrem Fortschrittsdenken, ihrem Wachstumszwang und der damit einhergehenden Abwertung und Ausbeutung von bestimmten Menschengruppen und der Natur geprägt. Laut dem politischen Theoretiker Antonio Gramsci (1971) stellen die Gruppen, die von dieser Infrastruktur profitieren (die herrschende Klasse) diese Infrastruktur – also unsere tiefen Denk- und Handelsmuster – als normal da. Dadurch werden sie auch von benachteiligten und ausgebeuteten Gruppen internalisiert und akzeptiert (Gramsci nennt dies „kulturelle Hegemonie“).  Die mentalen Infrastrukturen sind den Menschen daher in der Regel nicht bewusst. Sie laufen im Hintergrund ab und sind schwer zu verändern. In der transformativen Bildung für den sozial-ökologischen Wandel gilt es, diese tiefverankerten, kapitalistisch geprägten, mentalen Infrastrukturen zu erkennen, zu verlernen und neu zu erlernen. So schafft sie die Voraussetzung für tiefgreifende, strukturelle und materielle Veränderungen und utopische Formen des Miteinander, wie dem Leben in einer Postwachstumsgesellschaft.

Wie müsste transformative Bildung ausgestaltet sein, damit sie diese anspruchsvolle Aufgabe erfüllen kann? Wir schlagen dazu im folgenden Text fünf Zutaten vor (die Reihenfolge impliziert keine Hierarchie):

Zutat 1: Bildung sollte grundlegende Denk- und Verhaltensweisen ins Wanken bringen

Bildungstheorien können uns helfen zu verstehen, wie grundlegende Veränderungen unserer Denk- und Verhaltensweisen geschehen könnten. Die Theorie des „transformativen Lernens“ von Jack Mezirow (1987) sieht beispielsweise als Auslöser für einen transformativen Lernprozess ein „verwirrendes Dilemma“: Eine Schlüsselerfahrung, die bestehende grundlegende Überzeugungen und Annahmen in Frage stellt und ein tiefes Gefühl des Unbehagens, der Desorientierung, Unsicherheit oder Angst auslöst. Dieses Gefühl gibt der lernenden Person den Anstoß, auf die Suche nach neuen Perspektiven und Denkmustern zu gehen. Diese findet sie oft im Dialog mit anderen, insbesondere mit denen, die eine andere Perspektive vertreten. Essenziell ist bei einem solchen Lernprozess, einen sicheren Raum für Lernende zu schaffen, in dem sie authentisch und ehrlich ihre Erfahrungen und Gefühle reflektieren können. Für Mezirow bezieht sich transformatives Lernen auf einen inneren Prozess, der nicht zwangsläufig auf die sozial-ökologische Transformation ausgerichtet ist aber durchaus sein kann.

Zutat 2: Bildung sollte politisch-emanzipatorisch sein

Wir betrachten das kapitalistische Wachstumsparadigma und die damit einhergehenden diskriminierenden und ausbeutenden Machtstrukturen als die prägendsten Instanzen unserer mentalen Infrastrukturen. Deshalb muss transformatives Lernen, das auf die sozial-ökologische Transformation ausgerichtet ist, aus unserer Sicht auch immer politisch-emanzipatorisch sein. Maßgeblich prägend für eine politisch-emanzipatorische Bildung sind unter anderem die „Pädagogik der Unterdrückten“ von Paulo Freire (1970), das „Theater der Unterdrückten“ von Augusto Boal (1979) und die „Engagierte Pädagogik“ von bell hooks (1994)Eine politisch-emanzipatorische oder auch kritisch-politische Bildung befähigt Lernende ein sogenanntes „kritisches Bewusstsein“ (Freire 1970 und Gramcsi 1971) zu entwickeln. Das heißt, die Welt kritisch zu analysieren, Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse zu erkennen (z.B. Rassismus, (Neo)Kolonialismus, Geschlechter-diskriminierung, Klassismus oder Ableismus) und zu begreifen, wie Menschen und Institutionen darin eingebunden sind. Sie thematisiert Diskriminierung und eigene Privilegien und schafft ein Bewusstsein für die daraus resultierenden mentalen Infrastrukturen der aktuellen Gesellschaft. Sie macht die inhärenten Zusammenhänge zwischen Unterdrückung und dem kapitalistischen System deutlich. Politisch-emanzipatorische Bildung will Lernende unterstützen, zu selbstbewussten, verantwortungsvollen und kritischen Menschen zu werden und will sie in die Lage versetzen, sich für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit einzusetzen.

Paolo Freire (1970) betont, dass Emanzipation bereits im Lernprozess stattfinden soll. Machtverhältnisse zwischen Lernenden und Lehrenden sollten aufgehoben werden, Lehrende zu Lernbegleiter*innen oder Ko-Lernenden werden, und Lernende und Lehrende gemeinsam den Lernprozess gestalten.

Zutat 3: Bildung sollte unterdrückten Stimmen Gehör verschaffen und eine Vielfalt an Methoden und Wissensformen leben

Welche Autor*innen lesen wir? Welche Bilder sehen wir? Welche Perspektiven sind dominant in der Bildungsarbeit und welche hören oder sehen wir nie? Macht- und neokoloniale Strukturen finden sich auch in Bildungsinhalten und –methoden wieder und in dem, was wir als „Wissen“ oder „Wahrheit“ anerkennen. Beispielsweise sind Autor*innen aus dem Globen Süden im Bildungs- und Wissenschaftssystem stark unterrepräsentiert. Um Lernen wirklich transformativ zu gestalten, bedarf es einer Vielfalt an Perspektiven und Methoden und einer Neudefinition von „Wissen“ und „Wahrheit“.

In der heutigen Gesellschaft sehen wir, dass das westlich geprägte rational-analytische Denken und naturwissenschaftlich-empirische Methoden als erstrebenswert, „Wahrheit“, universell und objektiv deklariert werden. Gleichzeitig wird traditionelles, indigenes Wissen und Erfahrungswissen als Mythologie und Aberglaube degradiert, wodurch auch die Träger*innen dieses Wissens als minderwertig eingestuft werden. Dies führt zu einer Verzerrung in der Wissensvermittlung, die sich auf die Vorherrschaft des westlichen Denkens und die Ausblendung anderer Perspektiven stützt. Um Machtstrukturen zu hinterfragen und aufzubrechen, sollte in der transformativen Bildung insbesondere Perspektiven von unterdrückten Gruppen Raum gegeben werden.

Mehr Vielfalt braucht es auch in Bezug auf Bildungsmethoden. Das verkörperte oder emotionale Lernen, das alle Sinne und vor allem unsere Emotionen mit einbezieht, spielt in aktuellen Bildungsmethoden eine eher untergeordnete Rolle. Dabei wäre es essenziell, um ein umfassendes kritisches Bewusstsein zu entwickeln, die Welt auf ganzheitliche Weise zu erfahren, Empathie für unsere Mitwelt zu entwickeln und um die Beziehung zwischen Menschen sowie zwischen Mensch und Mitwelt neu zu definieren.

Zutat 4: Bildung sollte Raum für Utopien schaffen

Bildung sollte Räume schaffen, um Utopien zu entwerfen, die die Frage beantworten „Wie wollen wir eigentlich leben?“. Utopien können Orientierung für eine bessere Gesellschaft fern von vermeintlicher Alternativlosigkeit zu Wachstumszwängen, Extraktivismus und Machtverhältnissen bieten.

„Es ist leichter sich das Ende der Welt vorzustellen als ein Ende des Kapitalismus“, schrieb Fredric Jameson (zitiert in Fischer, 2009). Angesichts dieser Unsicherheit darüber, wie eine grundlegend andere Lebens- und Wirtschaftsweise aussehen könnte, dienen Utopien als Kompass, als Inspirations- und Hoffnungsquelle, um sich alternative Gesellschaften vorstellen zu können. Sie können daher als entscheidende Motivatoren für politisches Handeln und Emanzipation dienen.

Ergänzend können sogenannte reale Utopien wichtige Lernräume bilden. Reale Utopien sind konkrete emanzipatorische Praktiken und Experimentierräume, die in der heutigen Welt entwickelt und gelebt oder wiederbelebt werden, die dabei aber die Utopie im Kleinen vorwegnehmen. Reale Utopien finden sich auf der ganzen Welt und sind oft deutlich älter als der Kapitalismus selbst (in diesem Sinne sind es gar keine Utopien, sondern unterdrückte oder unbeachtete, alte, alternative Praktiken, die es geschafft haben abseits kapitalistischer Mechanismen zu überleben). Reale Utopien können beispielsweise Nachbarschaftsgärten, Bürger*innenräte, Solidarische Landwirtschaft, Genossenschaften oder Vergesellschaftung von Privateigentum, aber auch umfassende Konzepte des Zusammenlebens und Weltsichten wie das aus Südamerika stammende Buen Vivir oder Ubuntu aus Südafrika sein (im „Pluriverse – a post-development dictionary“, 2019) sind viele dieser Ansätze gesammelt). In realen Utopien werden Werte und Weltanschauungen jenseits des Status Quo (jenseits der kulturellen Hegemonie) konkret und körperlich und emotional spür- und erlebbar.

Zusätzliche Inspiration, wie utopischer Wandel entstehen kann, können wir durch die Auseinandersetzung mit Transformationstheorien, wie dem Mehr-Ebenen-Modell von Geels (2002) oder Wright’s Theorie von Wandel (2010) erhalten. Außerdem können wir von gegenwärtigen und vergangenen sozialen Bewegungen lernen, wie der Weg in eine Utopie aussehen könnte – zum Beispiel von der Black Panther Bewegung, den Zapatistas in Mexiko oder der brasilianischen Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST).  Solche Bewegungen können unsere Vorstellungskraft, wie Wandel jenseits kapitalistischer Pfade ganz konkret aussehen könnte erweitern und uns Mut machen, dass solch ein radikaler Wandel gelingen kann.

Zutat 5: Bildung sollte die Organisation in Gruppen und kollektives Handeln fördern

Die Black Panther Bewegung, die Zapatistas und die Bewegung der Landarbeiter ohne Boden sind oder waren allesamt in Gruppen organisiert. Gruppen bieten eine Plattform für den Austausch von Ideen, Erfahrungen, Fähigkeiten und Perspektiven. Sie ermöglichen gegenseitige Unterstützung und Solidarität. Sie können Menschen ermutigen und unterstützen, sich für den Wandel einzusetzen und ihnen das Gefühl geben, Teil einer größeren Bewegung zu sein. Durch die Organisation in Gruppen können Menschen ihre Stimme kollektiv stärken, Gegenerzählungen und alternative Sichtweisen kennenlernen und entwickeln. Sie können politischen Druck aufbauen, um vorherrschende mentale Infrastrukturen zu verändern und in Handlungen und echte, materielle Veränderungen zu übersetzen.

“[O]ne of the most vital ways we sustain ourselves is by building communities of resistance, places where we know we are not alone.” (bell hooks (2014), p.227)

Gruppen ermöglichen es, emanzipatorische und hierarchiearme Lebens- und Handlungsweisen praktisch auszuprobieren und zu leben. In Gruppen können Menschen gemeinsam für Veränderungen eintreten und sich gegen Widerstände und Hindernisse gemeinschaftlich zur Wehr setzen. Transformative Bildung sollte Räume schaffen, damit sich Menschen in Gruppen organisieren, ein anderes Miteinander leben und kollektiv auf den Systemwandel einwirken können.

Fazit

Wir denken, dass diese fünf Zutaten für eine transformative Bildung essenziell sind. Also für eine Bildung, die versucht, an den Ursachen statt an den Symptomen anzusetzen und die auf einem anti-oppressiven und emanzipatorischen Fundament steht. Für eine Bildung, die unsere mentalen Infrastrukturen aufdeckt und uns ermöglicht, uns utopische Alternativen vorzustellen und für diese zu kämpfen. Für den Übergang in die utopische Alternative einer Postwachstumsgesellschaft ist eine solche radikale und transformative Bildungsarbeit ebenso essenziell.

Gleichzeitig erheben wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit und beobachten vielmehr, dass diese Zutaten viele weitere Fragen aufwerfen: An welchen Orten kann und sollte eine solche transformative Bildung stattfinden? Kann sie in einem formellen (und hierarchischen) Bildungssystem, das zur Stabilisierung des kapitalistischen Status Quo beiträgt, stattfinden, oder braucht es dafür andere Orte? An wen richtet sich transformative Bildung? Wie genau können diese Zutaten praktisch umgesetzt werden?

Einige gelungene Beispiele für transformative Bildungsarbeit finden sich bei ULEX, dem Gesturing towards decolonial futures Kollektiv und dem Konzeptwerk Neue Ökonomie. Wir hoffen mit diesem Beitrag mehr Menschen zu motivieren, Antworten auf diese Fragen zu suchen und die Zutaten praktisch auszuprobieren. Wir freuen uns auch, wenn Ihr uns von Euren Lernerfahrungen berichtet!

 

Quellenverzeichnis

Boal, A. (1979). Theatre of the Oppressed. New York: Theatre Communications Group.

Freire, P. (1970). Pedagogy of the Oppressed. New York: Continuum.

Fisher, M. (2009). Capitalist Realism: Is There No Alternative? Winchester, UK: Zero Books.

Geels, F. W. (2002). Technological transitions as evolutionary reconfiguration processes: a multi-level perspective and a case-study. Research Policy, 31(8-9), 1257-1274.

Gramsci, A. (1971). Selections from the Prison Notebooks (Q. Hoare & G. Nowell-Smith, Eds. & Trans.). International Publishers.

bell hooks (2014). Yearning: Race, Gender, and Cultural Politics, Routledge

bell hooks (1994) Teaching to transgress: education as the practice of freedom. New York: Routledge.

Mezirow, J. (1997). Transformative Learning: Theory to Practice. New Directions for Adult and Continuing Education, 74, 5-12.

Welzer, H. (2011) Mentale Infrastrukturen: wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung (Schriften zur Ökologie, 14).

Marion Krämer arbeitet, forscht und engagiert sich im Bereich regionale Transformation, Klimagerechtigkeit und Postwachstum. Einer ihrer Arbeitsschwerpunkt ist die Rolle von realen Utopien und insbesondere der Solidarischen Landwirtschaft als Lernraum für Transformation. Sie arbeitet als interkulturelle und politische Bildnerin in einem Kooperationsprojekt zwischen dem Bonner Institut für Migrationsforschung und der Solidarischen Landwirtschaft Bonn. Vor ihrem Engegement für Postwachstum und Klimagerechtigkeit hat Marion an der Universität Göttingen in Volkswirtschaftslehre promoviert und im Bereich Evaluierung in der internationalen Zusammenarbeit gearbeitet.

Timo Kretschmer ist als Aktivist und Facilitator für radikale Transformation im Kollektiv Degrowth in Action organisiert. Er gibt Workshops zu Themen wie Degrowth, Kapitalismus, Neo-Kolonialismus und Utopien und versucht dabei kognitives und körperliches Lernen zu ermöglichen. Aktuell arbeitet er auch zu transformativer Gerechtigkeit und gewaltfreier Kommunikation (NVC). Timo hat ein Studium in Degrowth & Political Ecology absolviert und blickt außerdem skeptisch auf ein Studium der Volkswirtschaftslehre zurück.

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