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Macht und Wachstum nach der Europawahl

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Perspektiven für eine nachhaltige Transformation in Zeiten internationaler Konflikte

Nach der Europawahl steht nun fest, dass das konservativ-rechte Lager in der EU als Sieger:in hervorgegangen ist. Mit den schlechten Ergebnissen der Grünen, der liberalen und sozialdemokratischen Fraktionen ist für die nächsten fünf Jahre klar, dass ein progressiver Kurswechsel der EU erst mal nicht ansteht. Von einem Stillstand kann jedoch auch nicht die Rede sein. Mit der absehbaren Kontinuität von Ursula von der Leyen (CDU) als Kommissionspräsidentin, lässt sich die Vermutung aufstellen, dass „nachhaltige“ Entwicklung weiterhin über „grünem“ Wirtschaftswachstum, einem Ausbau industriepolitischer Maßnahmen und auch einer Zentralisierung fiskalischer Kompetenz vorangetrieben werden soll, wie sie es auch in der letzten State of the Union Rede angekündigt hat und in dem Beitrag von Hans Holzinger in Reaktion auf die Analyse der Wahlprogramme deutscher Parteien von Vincent Schlinkert ausgearbeitet wurde.

Die Entkopplung und der Mythos des grünen Wachstums

Dieser Beitrag bricht jedoch mit der Annahme, dass es grundsätzlich möglich ist, ein kapitalistisches Wachstumsregime aufrechtzuerhalten und gleichzeitig eine sozial gerechte und umweltverträgliche Lebensweise zu entwickeln. Während der Verweis auf die Reduktion von CO2-Emissionen bei zeitgleichem Anstieg des BIP-Wachstums in der Europäischen Union eine Entkopplung vermuten lässt, zeigen jedoch Daten der Worldbank, dass global betrachtet ein simultaner Anstieg beider Kennzahlen herrscht. Während die Treibhausgasemissionen relativ zum Anstieg des BIPs abnehmen, steigt die absolute Menge jedoch ungebrochen. Dies lässt auch den generellen Materialverbrauch außen vor, der trotz Effizienzsteigerungen nominal wächst. Mit einer Verschiebung von Produktion und der Externalisierung von Treibhausgasemissionen, schlechten Arbeitsbedingungen und Abfall in ein „anderswo“ als konkretes Symptom der imperialen Lebensweise (siehe Brand/Wissen 2017: Imperiale Lebensweise), kann innerhalb der EU der Entkopplungsmythos aufrechterhalten werden und damit auch von scheinbar progressiver und „nachhaltiger“ Politik übernommen werden. Es reicht dementsprechend nicht, sich auf einen verträglicheren und grüneren Kapitalismus auszuruhen, sondern es bedarf einer radikalen und tiefgreifenden Transformation der europäischen polit-ökonomischen Landschaft.

Internationale Wettbewerbsfähigkeit in der globalen und innerstaatlichen Machtdynamik

Die Beharrung auf Wirtschaftswachstum und die dafür notwendige internationale Wettbewerbsfähigkeit ist jedoch nicht überraschend. Es geht nämlich um Macht. Ökonomisches Wachstum sichert sozioökonomische und politische Machtpositionen, indem widersprüchliche Klassenkonflikte durch den Erhalt von Arbeitsplätzen und die Zunahme an materiellem Wohlstand befriedet werden. Jedoch kommt abseits innerer Konflikte auch eine internationale Dimension hinzu. Die Festigung und Steigerung der eigenen Wirtschaftsleistung gehen auch mit einer internationalen Profilierung einher, die ganz im Sinne der sich selbst reproduzierenden Logik wiederum den Zugang zu Kapital, kritischen Ressourcen und geopolitischen Interessen sichert. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs von Akkumulationsstrategien, welche rückwirkend auch in der eben ausgeführten innerlichen sozialen und polit-ökonomischen Machtmatrix essenziell sind.

Europäische Sicherheit und globale Machtansprüche

Die Zuspitzung internationaler Konflikte, wie dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine oder dem Handelskrieg zwischen westlichen Staaten und der Volksrepublik China, drängt daher auch die EU und ihre Mitgliedsstaaten in eine Position, in der die ökonomische und untrennbar damit verbundene militärische globale Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden muss. Diese Wettbewerbsfähigkeit beschäftigt sich nicht nur mit dem Absatz von Gütern und Dienstleistungen, sondern betrachtet auch zunehmend den Anfang der Wertschöpfungskette. Besonders im Umgang mit kritischen Rohstoffen, die beispielsweise für die Elektrifizierung der (Auto-)Mobilität und die Herstellung von erneuerbaren Energietechnologien benötigt werden, bedarf es einer geopolitischen Vormachtstellung, die die Extraktion und die damit verbundenen Lieferketten sichert. Exemplarisch ist hierbei der Europäische Militäreinsatz EUNAVFOR ASPIDES, welcher laut Borrell (2024): „die maritime Sicherheit und die Freiheit der Schifffahrt in einem äußerst strategischen Seekorridor [wiederherstellen soll].“ Die Umweltzerstörung und katastrophalen Arbeitsbedingungen, sowie deren Konsequenzen für die lokale Bevölkerung, die damit einhergehen und in ein ‚Anderswo‘ externalisiert werden, werden mittels eines isolationistischen Grenzregimes an den EU-Außengrenzen und, hier schließt sich der Kreis, durch eine sich militarisierende FRONTEX aus der EU ferngehalten. Zynisch und ironisch ist, dass es des Militärs bedarf, um Güter und Rohstoffe in die EU zu bringen, aber Menschen draußen zu halten. Es ist daher nicht überraschend, dass Diskussionen um eine gemeinsame Rüstungsindustrie und gemeinsame Streitkräfte der EU Aufwind erfahren.

Natürlich dürfen auch der Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit, die im europäischen Grenzregime symptomatisch werden, nicht ignoriert werden. Jedoch kann der Zusammenhang zwischen ökonomischem Wachstum und dem Erhalt (industrie-)militärischer Kapazitäten nicht übersehen werden, um den intraeuropäischen und internationalen Machterhalt zu sichern.

Was machen wir damit?

Aus dem oben erläuterten Zusammenhang lässt sich ableiten, dass gesellschaftliche Konstellationen, die konsequent vom Wachstumsregime abrücken möchten, einen neuen Zugang zu den inner-europäischen und globalen Machtverhältnissen finden müssen. Es ist evident, dass eine Reduktion des wirtschaftlichen Outputs nicht ohne einen Abbau militärischer Kapazitäten einhergehen kann.  Sollen planetare Grenzen berücksichtigt werden, muss demokratisch entschieden werden, welche Bedürfnisse, wie zum Beispiel Nahrungssicherheit, Mobilität etc., vorliegen und wie diese zu priorisieren sind. Es ist fraglich, ob ein stehendes Heer wirklich diese Bedürfnisse erfüllt. Zumal eine positive Kausalität zwischen Militärausgaben und Sicherheit nicht existent ist, eine Dekarbonisierung von Streitkräften weder realistisch noch praktikabel erscheint, und Ausgaben für das Militär relativ ineffizient sind, um Arbeitsplätze zu schaffen und zu halten. Ein Elektrobus ist sowohl sicherer, einfacher zu reparieren als auch effizienter als ein Panzer, um Leute von A nach B zu bringen – da kann selbst das Kriegsgerät seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden.

Ein Ansatz wie Degrowth oder Postwachstum ist daher nicht realisierbar, solange globale Konflikte nicht global und international gelöst werden. Der Klimawandel verdeutlicht diese Notwendigkeit bereits jetzt konsequent. Im europäischen Kontext bedeutet dies, dass Fragen des Wohlstands nicht durch weiteres Wirtschaftswachstum beantwortet werden dürfen, weder aus ökologischer Sicht, noch angesichts sich zuspitzender internationaler Konflikte. Stattdessen müsste eine neue Architektur für internationale Konfliktlösungen angestrebt werden, möglicherweise durch eine Stärkung der Kompetenzen der Vereinten Nationen. Angesichts der aktuellen Machtverhältnisse in der EU ist dies jedoch nicht zu erwarten. Die Mitte-Rechts-Mehrheit im EU-Parlament, wie die Ausarbeitung der Wahlprogramme deutlich gemacht hat, wird an der Gleichsetzung von Wohlstand und Wachstum und damit an der notwendigen wirtschaftlichen und militärischen Profilierung auf globaler Ebene festhalten. Angesichts der sich zuspitzenden Engpässe bei kritischen Rohstoffen und der Intensivierung bereits existierender Konflikte scheint der Fortschritt seinen optimistischen Charakter verloren zu haben. Was uns da nur noch bleibt, ist Hoffnung.

Also, solange Wachstum und Krieg eine unzertrennliche Paarung bilden, bleibt die Welt wohl eher ein Wachstumsmarkt für Konflikte – mit dem Klimawandel als Extra-Kick.

1 Kommentare

  1. Anonymous sagt am 20. Juli 2024

    Ich stimme der Analyse weitgehend zu, vermisse aber Vorschläge für mehrheitsfähige Alternativen. „Unser Wohlstand“ und unsere „Kriegsfähigkeit“ stehen heute ganz weit oben auf der Prioritätenliste praktisch aller Parteien. Wer gegen diesen Mainstream argumentiert, wird als naiv und weltfremd verunglimpft.

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