Standpunkte

Planung statt Postwachstum (I)

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Im Juni 2024 fand die 10. Internationale Degrowth-Konferenz in Pontevedra in Spanien statt. Unter dem Konferenztitel „Wissenschaft, Technologie und Innovation jenseits des Wachstums“ kamen über 1000 Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und auch Politiker*innen zusammen, um Alternativen zum Wachstumsparadigma zu diskutieren. Vor ziemlich genau zehn Jahren, im September 2014, kam die seit 2008 zweijährlich stattfindende Degrowth-Konferenz nach Deutschland. Die Konferenz an der Universität Leipzig war mit über 3000 Teilnehmenden ein Großereignis. Spätestens seitdem ist der Postwachstums- oder Degrowth-Ansatz (beide Begriffe werden in diesem Artikel synonym verwendet) im progressiven Spektrum hierzulande ein zentraler Bezugspunkt. Jedes Jahr finden Sommerschulen und aktivistische Bewegungskonferenzen und -Camps unter dem Degrowth-Banner statt, in den letzten Jahren sind hochkarätig besetzte Tagungen mit Politiker*innen und millionenschwere öffentliche Forschungsprogramme, vor allem auf EU-Ebene, hinzugekommen.

Eigentlich kann die vor allem akademisch verankerte Postwachstums-Bewegung damit zur zehnten internationalen Konferenz bzw. zum über 20-jährigen Jubiläum ihres Bestehens nur beglückwünscht werden. Eigentlich – denn werfen wir einen Blick auf die allgemeine politische und ökonomische Lage, entsteht ein düsteres Bild.

Metamorphosen des Neoliberalismus

Seit 2008 – dem Jahr der ersten Degrowth-Konferenz und der internationalen Finanzkrise – hat sich kein sozial-ökologisches Wirtschaftsparadigma durchgesetzt. Stattdessen hat sich ein flexibler Interventionskapitalismus entwickelt, der zur Absicherung und Steigerung der Profitabilität der Unternehmen weniger auf Deregulierung und „freie Märkte“, sondern auf staatliche Interventionen setzt. Die Politik der Bankenrettung und Konjunkturprogramme war von Anfang an mit Teilen der neoliberalen Doktrin weiterhin vereinbar, wie sich unter anderem in der Austeritätspolitik in Griechenland zeigte. Während der Corona-Pandemie 2020-2022 und der Gaspreiskrise 2022/2023 durfte der Staat erneut zeigen, was er kann. Doch die Verstaatlichungen der Lufthansa 2020 während der Corona-Pandemie oder von Uniper 2022 während der Gaspreiskrise erfolgte ebenso wie die der Commerzbank während der Finanzkrise 2009 bekanntermaßen nach dem Motto: „Die Verluste werden vergesellschaftet, die Gewinne privatisiert“.

Spätestens seit dem „Inflation Reduction Act“ und dem „Chips and Science Act“ in den USA, beide verabschiedet im Jahr 2022, hat der Staatsinterventionismus eine neue Qualität erreicht. Es entsteht eine aktive Industriepolitik, mit der die Regierungen in zentralen Industriestaaten stärker als je zuvor die kapitalistische Transformation vorantreiben. Dabei geht es wie eh und je um geopolitische und ökonomische Vorherrschaft – nur, dass diese Politik nun im Einklang mit Kapitalinteressen den Umbau der technologischen Basis der Produktion vorantreibt und sich daher „grün“ nennen darf.

Ohne die progressiven Potentiale der neuen Industriepolitik (über die insbesondere in den USA eine wichtige Debatte entstanden ist) kleinzureden, lassen sich seit 2008 vor allem Metamorphosen des Neoliberalismus anstatt eines progressiven Paradigmenwechsels beobachten. Das „Primat der Ökonomie“, das die Interessen der Vermögenden und Unternehmen an höchste Stelle stellt, wird nicht grundlegend in Frage gestellt, denn auch der neue Staatsinterventionismus ist mit seiner Subventionspolitik auf die Interessen der Unternehmen ausgerichtet. So werden bestimmte Elemente des Neoliberalismus über Bord geworfen, andere können unter geänderten Vorzeichen fortbestehen – ganz nach dem Motto »Neue Segel, alter Kurs« (s. Bieling, Hans-Jürgen/Guntrum, Simon, 2019: Neue Segel, alter Kurs? Die Eurokrise und ihre Folgen für das europäische Wirtschaftsregieren, Wiesbaden.).

Während der „grüne Kapitalismus“ versucht, die Wirtschaft im Einklang mit Unternehmensinteressen umzugestalten, setzt sein rechter Herausforderer auf die resolute Verteidigung der fossilen Industrien und Infrastrukturen. In den letzten zehn Jahren haben rechtsradikale politische Strömungen und Regierungsprojekte, die den Klimawandel leugnen oder verharmlosen, weltweit einen Durchbruch erlebt. Teils setzen sie auf eine radikalisierte Variante der neoliberalen Sparpolitik, wie der argentinische Präsident Javier Milei. Teils setzen sie auf rassistische Sozialpolitik, wie Marine Le Pen in Frankreich. Letztlich machen auch rechtsextreme Regierungsprojekte Politik für Unternehmen – wenn auch mehr für „fossile“ als für „grüne“ Unternehmensfraktionen.

Die 3-Grad-Welt

Während sich in den letzten 15 Jahren also ein flexibler Interventionskapitalismus herausbildet hat, der eher autoritäre und unsoziale als progressive Elemente beinhaltet, haben sich wichtige Zeitfenster für eine Abwendung der Klimakatastrophe geschlossen. Wie eine Befragung führender Klimawissenschaftler*innen im Mai 2024 ergab, glaubt deren überwältigende Mehrheit nicht an eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 Grad. Tatsächlich prognostizieren sie eine Erhitzung von 3,0 oder 2,5 Grad. Die 1,5 Grad-Grenze ist ohnehin bereits überschritten. Der Zeitraum Februar 2023 bis Januar 2024 war das heißeste Jahr, das jemals gemessen wurde. Die globale Durchschnittstemperatur lag 1,52 Grad über dem vorindustriellen Referenzwert. Waren Kippunkte – die Schwellenwerte, an denen sich das Klima nicht mehr linear, sondern abrupt zu verändern beginnt und ein Dominoeffekt in Gang gesetzt wird – vor ein paar Jahren noch abstrakte Zukunftsprognosen, sind sie nach neuesten Forschungen bereits erreicht. Das Abschmelzen der gigantischen Eismassen auf Grönland und am Südpol hat bereits irreversibel eingesetzt. Auch die Versteppung des Amazonas-Regenwaldes könnte bereits eingeleitet sein – der Punkt, an dem er mehr Treibhausgase freisetzt als aufnimmt, ist wohl bereits seit drei bis vier Jahren erreicht. Alle verfügbaren Fakten deuten darauf hin, dass im Jahr 2030 insgesamt vier der globalen Kippunkte im Klimasystem erreicht sein werden – neben dem irreversiblen Abschmelzen gigantischer Eismassen am Nord- und Südpol und der Austrocknung des Amazonas und weiterer Urwälder verliert das Meer seine Fähigkeit, CO2 zu speichern und die atlantischen Meeresströme beginnen zu versiegen. Eine neuste Studie spricht gar von einem Kollaps des Golfstroms mit katastrophalen Folgen für Europa „ab 2025“.

Für eine politische Kehrtwende, die die Klimakatastrophe noch entscheidend abschwächen könnte, sieht es denkbar schlecht aus. Die neue Staatsinterventionismus dient nicht primär der unmittelbaren und radikalen Reduktion von CO2-Emmissionen, sondern soll neue Wachstumsfelder erschließen und steht im Kontext der geopolitischen Konflikte, die Klimathemen zunehmend überlagern. Herausgefordert wird die neue Industriepolitik derzeit – wie oben dargestellt – nicht von einem sozial-ökologischen Gegenprojekt, das die Wirtschaft im Sinne eines Postwachstumssystems radikal transformieren möchte, sondern von einer regressiven Zukunftsvision, die die fossile Produktions- und Lebensweise bis zum letzten Tropfen Öl zu verteidigen verspricht.

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