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Was lernen wir aus 35 Jahren Wachstumsdebatte? I

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Die Dominanz des Wachstumsparadigmas in der Wirtschaftswissenschaft – ungebrochen?

Im folgenden Artikel möchte ich Überlegungen vorstellen, die ich in den Workshop „Die Wachstumsfrage: Was lernen wir aus 35 Jahren Wachstumsdebatte?“ eingebracht habe, der im Rahmen der IÖW-Tagung „Zeitenwende – wird diesmal alles anders? Konzepte und Handlungsstrategien für resilientes Wirtschaften“ am 25. September stattfand. Im zweiten Teil des Vortrages beschäftigt sich Angelika Zahrnt mit der Frage, was die Wachstumsdebatte in den letzten Jahrzehnten bewegt hat und wie Bewegung in die Politik kommt.

Das Wachstumsparadigma hat über Jahrzehnte die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung geprägt. Oberflächlich betrachtet erscheint seine Dominanz weiterhin ungebrochen. Seine Unterstützer/innen können selbstbewusst auf eine gute Performance zurückblicken: ein Wachstumsjahrzehnt in Deutschland und global: „The world today is richer than it is has ever been” (Mokyr 2016, 3). Das ist die weit verbreitete Wahrnehmung: „Ohne Wachstum ist alles nichts“ hat Angela Merkel 2003 formuliert – und das gilt weiter, auch und gerade in der Corona-Krise. Die Rezepte der führenden Wirtschaftswissenschaftler(/innen) (Sachverständigenrat und traditionelle Wirtschaftsforschungsinstitute) sind die stets gleichen: Investitions-/Innovationsförderung, Deregulierung, Steuerentlastungen, Haushaltskonsolidierung – um damit dann letztlich aus allen Problemen „herauszuwachsen“. Allerdings: Etwas angeschlagen ist das Wachstumsparadigma schon: In der Finanzmarktkrise 2008 und auch jetzt in der Corona-Krise muss auf das konkurrierende keynesianische Paradigma zurückgegriffen werden. Das gilt nicht nur für die kurzfristige Krisenbekämpfung (deficit spending), sondern auch für die längerfristig angelegte Politik der Modernisierung. Eine stärkere Rolle des Staates ist nun kein Tabu mehr, z. B. in Form des 50 Mrd. € „Zukunftspakets“ und in Form von Industriepolitik, einem bunten Strauß an „Strategien“ von der Bioökonomie- über die Hightech- bis zur Wasserstoff-Strategie. Vor so viel Staat haben die Angebotstheoretiker(/innen) seit vielen Jahren gewarnt – und nun lässt das selbst der Sachverständigenrat (vgl. Jahresgutachten 2019/20) durchgehen (mit einigen marginalen Warnhinweisen versehen). Wenig Probleme bereiten dem Wachstumsparadigma die ökologischen Herausforderungen, da hier mit „Green Growth“ (s. u.) eine wirksame Immunisierung gelungen ist.

Fazit: Insgesamt ist die Dominanz des Wachstumsparadigmas ungebrochen, aber man kann (mit Schumpeter 1942) „bröckelnde Mauern“ diagnostizieren – fehlt „nur“ noch ein neues Paradigma, das die Mauern zum Einsturz bringt.

Drei mögliche Alternativen zum Wachstumsparadigma

Wie sieht es aus mit potenziellen Alternativen zum Wachstumsparadigma? Die Debatte um die Ablösung des Wachstumsparadigmas hat sich ausdifferenziert in drei Grundtypen: Green Growth (GG), A-Growth (AG) und De-Growth (DG). Neben diesen drei Grundtypen gibt es Varianten wie die „Vorsorgeorientierte Postwachstumsposition“. Zu jedem dieser Typen im Folgenden einige wenige Bemerkungen und eine Einschätzung des Potentials im Hinblick auf gesellschaftliche Nachhaltigkeitsziele.

Green Growth ist eine Variante des Wachstumsparadigmas (wie zuvor schon „qualitatives Wachstum“), die seit 2012 von OECD und Weltbank in die globale Debatte hineingetragen worden ist. Ökologische Grenzen (Leitplanken) werden anerkannt und auf Entkoppelung gesetzt. Damit sollen ökologische Nachhaltigkeitsziele und das Wachstumsziel gleichzeitig erreicht werden. Empirisch ist allerdings zweifelsfrei belegt, dass die absolute Entkoppelung nicht gelungen ist bzw. nur so langsam vorankommt, dass damit die Reduktionsziele bei Treibhausgas-Emissionen, Stoffströmen und Flächenverbrauch bis 2050 bzw. 2040 nicht zu erreichen sind. Der Hinweis auf die theoretische Möglichkeit signifikant höherer Effizienzsteigerungsraten, ist irrelevant solange dafür keine wirksamen Maßnahmen vorgeschlagen werden können. Die Green Growth-Position ist daher wissenschaftlich nicht haltbar. Wenn das so eindeutig ist, muss gefragt und analysiert werden, warum die Green Growth-Idee noch immer die politische Debatte dominiert – bis hinein in die Programmatik der Grünen.

A-Growth: Die wachstums-agnostische (wachstumsneutrale, wachstumsindifferente) Position plädiert dafür, direkt die ökologischen und sozialen Ziele in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen und das BIP-Wachstum als wenig aussagekräftigen, nachrangigen Indikator zu behandeln. Geht man von harten ökologischen Leitplanken (Nachhaltigkeits-/Reduktionszielen) aus, so kann sich innerhalb der damit gesetzten Rahmenbedingungen die wirtschaftliche Entwicklung frei entfalten; ob damit BIP-Wachstum verbunden ist, bleibt offen. Das klingt sowohl ökologisch als auch marktwirtschaftlich schlüssig. Als Handlungsempfehlung müsste daraus folgen, dass konsequent auf jede Art von Wachstumsförderung verzichtet werden muss, also die Ablehnung der vorherrschenden Wirtschaftspolitik. Untersucht werden müsste, was geschieht, wenn die harten Leitplanken zu einem dauerhaften Schrumpfungsprozess führen. Wenn Wirtschaft und Gesellschaft auf diesen Fall nicht vorbereitet sind, ist zu erwarten, dass die Leitplanken fallen werden. „Indifferenz“ gegenüber einem gesellschaftlich dominierenden Leitbild ist daher kein guter Ratschlag.

De-Growth: Aus den Nachhaltigkeitszielen (Klimaneutralität 2040 etc.) und der unzureichenden absoluten Entkoppelung ergibt sich logisch zwingend, dass das Produktionsvolumen (BIP) sinken muss – und damit die Einkommen und der Konsum. „De-Growth“ (down-scaling) ist also kein eigenständiges Ziel, sondern abgeleitet aus der gesellschaftlichen Entscheidung für (ambitionierte) Nachhaltigkeitsziele – in Verbindung mit der begrenzten Leistungsfähigkeit des Innovationssystems. Während Green Growth win-win und ein „weiter so“ verspricht, thematisiert De-Growth klar den Zielkonflikt und die „hard choices“. Damit wird die Notwendigkeit einer „Effizienz-Revolution“ nicht geleugnet, aber es wird klar gemacht, dass – nach aktuellem Erkenntnisstand – Effizienzsteigerungen alleine nicht ausreichen werden, um das gesellschaftlich definierte Ambitionsniveau zu erreichen. Notwendig ist „anders“, aber eben auch „weniger“. Die Debatte über „Scale“, das Produktions- und Konsumvolumen, ist unausweichlich. Makro-ökonomisch bedeutet das ein schrumpfendes BIP, für jeden einzelnen die Frage noch dem „Genug“ in allen Lebensdimensionen (Suffizienz-Frage). Die politischen Handlungsempfehlungen lauten: Die Stimulierung des Wachstums durch staatliche Wachstumspolitik (d. h. Deregulierung, Privatisierung, Steuersenkung) beenden. Fokussierung auf Krisenfestigkeit (Resilienz) und auf Suffizienzpolitik (d. h. Ermöglichung des „Weniger“). Das wird den Transformationsprozess beschleunigen und daher ist systematische Transformationsplanung für die besonders betroffenen Sektoren und Regionen erforderlich (slower by design not by disaster). Intensiviert werden muss die sozio-kulturelle Debatte über die positive Zukunftsvision für das Postwachstumszeitalter. Warum setzt sich die De-Growth-Erkenntnis weder wissenschaftlich noch politisch durch? Offensichtlich ist der Suffizienz-Aspekt so angst- und risikobehaftet (Stagnation, Jobs, Status etc.), dass niemand ihn ernsthaft anpacken will.

Die vorsorgeorientierte Postwachstumsposition in vier Handlungsempfehlungen

Vorsorgeorientierte (Post-)Wachstumsposition: Petschow et al. (2018) gehen vom Nichtwissen sowohl über zukünftige Wachstumsdynamik als auch über mögliche Effizienzsteigerungen aus. Da die Fortdauer der Wachstumsdynamik ungewiss ist (u. a. wegen harter Leitplanken), muss mehr Vorsorge geleistet, in die Krisenfestigkeit (Resilienz) von Wirtschaft und Gesellschaft investiert werden (u. a. in die Wachstumsunabhängigkeit der Sozialen Sicherungssysteme). Welche Kombination aus Effizienz und Suffizienz letztlich zur Erreichung der Reduktionsziele führt, bleibt offen. In jedem Fall ist eine no-regret-Strategie – angesichts der Ungewissheiten – mehr in Vorsorge zu investieren. Daraus werden vier Handlungsempfehlungen abgeleitet, zu denen hier nur jeweils eine kritische Anmerkung gemacht werden kann:

  • Kultur der Nachhaltigkeit fördern: Kann man das nicht konkreter fassen als „Kultur der Suffizienz“ (Effizienz-Kultur ist ja schon hinreichend verbreitet)?
  • Internalisierung: Konkrete Reduktionsziele verlangen effektive Mengen- Reduktionspfade (caps). Zertifikatspreise können dann als Instrument der effizienten Allokation dienen. Das Konstrukt der „ökologischen Wahrheit“ (mit Monetarisierung von Umweltschäden) ist nicht erforderlich.
  • Experimente: (Weitere) Experimente und Best-Practice-Beispiele dürfen nicht ablenken von der notwendigen Veränderung der Rahmenbedingungen.
  • Wachstumsunabhängigkeit, insbes. der sozialen Sicherungssysteme: Die Forderung wird bereits seit Jahren erhoben (vgl. z. B. Seidl/Zahrnt 2010); von der Wissenschaft werden Lösungsvorschläge erwartet.

Fazit: Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, hier liege eine Variante von A-Growth oder gar Green Growth vor. Bezieht man allerdings die Finanzierung der „Vorsorge“ (Aufbau von Rücklagen) mit ein, so sind sinkende Netto-Einkommen zu erwarten, also De-Growth. Auch der geforderte „Kulturwandel“ bewegt sich im Einzugsbereich des De-Growth-Ansatzes.

Ausblick und Perspektiven

Sind wir Zeugen und Mitwirkende einer Zeitenwende? Mit großer Sicherheit kann man heute nur sagen, dass 2020-2040 eine Wendezeit sein wird. Solange ist das Transformationszeitfenster im Klimaschutz noch offen und müssen weitere Elemente einer „Großen Transformation“ (Artenschutz, Stoffkreisläufe, Armutsbekämpfung) durchgesetzt werden. Dabei wird das Wachstumsparadigma einfach deshalb in den Hintergrund treten, weil es – wie in der Corona-Krise – keinen relevanten Lösungsbeitrag leisten kann. Gefragt sind jetzt Konzepte für Strukturwandel und Transformation, konkrete Transformationsplanung als Rahmen und Orientierungshilfe für unternehmerische Entscheidungen. Zu lösen sind Verteilungsfragen unter grundlegend veränderten Bedingungen: demografisch, technologisch, sozio-kulturell – und ohne auf permanentes Wachstum zu setzen. Angesichts der schier unlösbar erscheinenden Herausforderungen in dieser Wendezeit braucht es „Mut zum Machen“ – auch in Forschungsinstituten wie dem IÖW. Dafür fordert der BUND, dass die ökologische Wirtschaftsforschung gestärkt werden muss – spätestens ab 2021, durchgesetzt von einer Grünen Forschungsministerin.

 

Die Online-Dokumentation (inkl. Videos) zur IÖW-Tagung „Zeitenwende – Wird diesmal alles anders? Konzepte und Handlungsstrategien für resilientes Wirtschaften“ am 25. September finden Sie hier.

 

 

Literatur

BUND / Misereor (Hrsg. 1996): Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung. Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie, Basel/Berlin (Birkhäuser)

Kurz, Rudi (1999): Marktwirtschaft und Wachstum – siamesische Zwillinge? In: Greenpeace / Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.): Wirtschaft ohne Wachstum? Denkanstöße – Handlungskonzepte – Strategien, Wiesbaden, 87-109

Kurz, R. (2007): Wirtschaftswachstum als Ausweg aus der ökologisch-sozialen Krise? in: Rudolph, S. (Hrsg.): Wachstum, Wachstum über alles? Ein ökonomisches Leitbild auf dem Prüfstand von Umwelt und Gerechtigkeit, Marburg (Metropolis), 17-30

Kurz, Rudi (2014): Green Growth and Sustainable Development, in: Moczadlo, Regina / Šimi?, Mirna Leko / Oberman Peterka, Sun?ica (eds.): Regional and International Competition – A Challenge for Companies and Countries, Pforzheim, 11-20

Kurz, Rudi (2015): Obsoleszenz und Nachhaltige Entwicklung aus volkswirtschaftlicher Perspektive, in: Brönneke, Tobias / Wechsler, Andrea (Hrsg.): Obsoleszenz interdisziplinär. Vorzeitiger Verschleiß aus Sicht von Wissenschaft und Praxis, Baden-Baden (Nomos), 56-80

Kurz, Rudi / Zahrnt, Angelika (2016):  Sufficiency and Sufficiency Policy, http://www.foeeurope.org /sites/default/files/materials_and_waste/2016/sufficiency-sufficiency-politics-kurz-zahrnt-2016.pdf

Kurz, Rudi (2017): Effizienz und Green Growth. Ein unerfülltes Versprechen, in: Zukunftsfähiges Deutschland. Wann, wenn nicht jetzt? Politische Ökologie No. 148, München (oekom), 49-54

Kurz, Rudi / Spangenberg, Joachim H. (2017): 50 Jahre Stabilitäts- und Wachstumsgesetz – Retrospektive und Perspektiven, Ökologisches Wirtschaften, 32. Jg., Heft 3, 12-13

Kurz, Rudi (2019a): Unsustainable Germany: Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie auf dem Prüfstand, Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht, 42. Jg., H.3, 342-357

Kurz, Rudi (2019b): Post-Growth Perspectives: Sustainable Development Based on Efficiency and on Sufficiency, Public Sector Economics (PSE) Vol. 43, No. 4, 401-422, https://doi.org/10.3326/pse.43.4.4

Kurz, Rudi (2019c): Transformation der deutschen Automobilindustrie, wisu das wirtschaftsstudium, 48. Jg., Heft 12, 1355-1360

Kurz, Rudi / Zahrnt, Angelika (2019): Mit Steuern ökologisch steuern, in: Morgenland. Denkpfade in eine lebenswerte Zukunft, politische ökologie 37. Jg., Nr. 157-158, 250-255

Kurz, Rudi / Spangenberg, Joachim H. / Zahrnt, Angelika (2019): IPCC-Report Global Warming of 1.5°C: Das fehlende Szenario „Klimaschutz ohne Wachstum“, Ökologisches Wirtschaften 34. Jg., H.2, 35-39

Kurz, Rudi (2020a): Postgrowth, in: Idowu S. et al. (eds): Encyclopedia of Sustainable Management. Springer, Cham, https://doi.org/10.1007/978-3-030-02006-4_499-1

Kurz, Rudi (2020b): Degrowth, in: Idowu S. et al. (eds): Encyclopedia of Sustainable Management. Springer, Cham, https://doi.org/10.1007/978-3-030-02006-4_501-1

Kurz, Rudi (2020c): Rebound Effects of Eco-Efficiency, in: Idowu S. et al. (eds): Encyclopedia of Sustainable Management. Springer, Cham, https://doi.org/10.1007/978-3-030-02006-4_498-1

Kurz, Rudi (2020d): Sufficiency, in: Idowu S. et al. (eds): Encyclopedia of Sustainable Management. Springer, Cham, https://doi.org/10.1007/978-3-030-02006-4_497-1

Kurz, Rudi (2020e): Nachhaltige Entwicklung, Transformation und Corona Krise, in: SYM. Magazin der Evangelischen Akademie Bad Boll, 17. Jg., S. 48

Mokyr, Joel (2016): A Culture of Growth: The Origins of the Modern Economy. Graz Schumpeter Lectures, Princeton/Oxford (Princeton University Press)

Petschow, Ulrich et al. (2018): Gesellschaftliches Wohlergehen innerhalb planetarer Grenzen. Der Ansatz einer vorsorgeorientierten Postwachstumsposition, Berlin (Umweltbundesamt)

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2019): Jahresgutachten 2019/20: Den Strukturwandel meistern, Wiesbaden

Schumpeter, Joseph A. (1942): Capitalism, Socialism and Democracy, New York (Harper & Row)

Seidl, Irmi / Zahrnt, Angelika (Hrsg. 2010): Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft, Marburg (Metropolis)

 

 

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